Aus materialfluss 1-2/2020
materialfluss ROUND TABLE: Logistik-Dienstleister - Die Suche nach der neuen Identität
Wie stellen sich Logistik-Dienstleister in Zukunft auf? Diese große Frage beschäftigt die Branche in Zeiten von E-Commerce, Demographischem Wandel und Nachhaltigkeits-Druck intensiv. materialfluss nutzte die Gelegenheit eines Arbeitstreffens zur Neuauflage des 2019 erstmals verliehenen LogiVisor-Awards, die breit aufgestellte Kernjury zu einem materialfluss ROUND TABLE zu versammeln.
An der Runde nahmen teil: Oliver Lucas (Gründer und Geschäftsführer ecom consulting), Stephan Meyer (Freiberuflicher Unternehmensberater), Dr. Alexander Nehm (Geschäftsführer Logivest Concept), Prof. Dr. Michael Schröder (Wissenschaftlicher Leiter Duale Hochschule Baden-Württemberg, Center for Advanced Studies) sowie, als Gastgeber, Kuno Neumeier (Geschäftsführer Logivest und Initiator des LogiVisor-Awards).
materialfluss: Das Jahr 2020 ist erst wenige Tage alt – wie sind Ihre Konjunkturerwartungen?
Alexander Nehm: Wir haben einen guten Überblick über Logistikneubauten, die ja oft mit Kontraktlogistik zusammenhängen. 2019 zeigt sich die wahrgenommene Delle auch in Zahlen ganz massiv. Wir haben 2019 rund 4,2 Millionen Quadratmeter neugebauter Logistikfläche, 2018 waren es über fünf Millionen Quadratmeter. Für 2020 fehlt mir noch ein bisschen die Substanz, auf der ich eine gute Prognose ableiten könnte. Die Stimmung ist defensiv, das auf alle Fälle.
Kuno Neumeier: Das kann ich bestätigen. Wir haben in vielen Projekten, die Logivest betreut, für 2020 aber eine sehr positive Dynamik. Bei Projekten, die noch nicht entschieden sind, bemerken wir aber schon angezogene Handbremsen in einigen Fällen. Treiber für Logistikimmobilien sind Retail / E-Commerce und der Automotive-Sektor. Trotz der einen oder anderen Insolvenz sehen wir die Lage positiv. Wenn sich Karten neu mischen, ergeben sich neue Situationen, auch auf Immobilienseite.
Stephan Meyer: Ich nehme einen ungebrochenen Bedarf war, Logistik-Dienstleister auszuwählen bei einer gleichzeitig immer größeren Unsicherheit bei den Verladern, wie man das eigentlich macht. Die Anforderungen an die Logistik verändern sich permanent und so versuchen viele Verlader, zunächst schnell volle Transparenz über die verschiedenen Anbieter und Standorte zu schaffen. Dieser Findungsprozess läuft aber seit 20 Jahren unverändert ab und ist zu zeitintensiv. Das muss sich ändern und schneller gehen, zu handeln ist oftmals wichtiger, als „typisch deutsch“ erst alle denkbaren Handlungsalternativen zu prüfen.
Oliver Lucas: Das Thema Retail und E-Commerce wird weiterhin Treiber bleiben. Wir sehen zwei Effekte: Bedingt durch die heutige Plattformökonomie wird es immer wichtiger, dass die Kompetenz der Logistik-Dienstleister viel höher sein muss als vor fünf oder zehn Jahren. Bestände müssen Kanälen zugeordnet werden, ein Auslieferauftrag ist somit nicht einfach nur ein Auftrag, sondern ein kanalspezifischer Auftrag, an dem spezifische logistische Anforderungen hängen wie Verpackung, SLA, Transportführer, Beileger, Dokumente und so weiter. Zudem steigen die Servicelevel, die erwartet werden. Das erfordert eine Professionalisierung der Logistik, die nicht jeder liefern kann. Zum anderen sehen wir viele klassische Hersteller, die bisher Vertriebsstrukturen an Händler haben und die jetzt gefordert sind, das Handling für mehrere Verkaufskanäle zu betreiben. Diese Unternehmen überspringen teilweise den Handel und müssen eigene Wege finden, an den Endkunden heranzugehen. Das überfordert viele in Prozessen und Systemen massiv.
Michael Schröder: Ich mache mir zunutze, dass ich permanent mehrere hundert Studenten betreue, die allesamt mehrere wissenschaftliche Arbeiten schreiben müssen. Da dies immer konkrete, aktuelle Problemstellungen aus den Betrieben sind, leite ich aus den Themen immer Tendenzen ab. Neben den „Klassikern“ gibt es zunehmend Arbeiten, die sich mit Insourcing beschäftigen, und Arbeiten, die Automatisierung im Lager in den Fokus nehmen. Das ist in der Fülle neu.
mfl: Spielt das Thema Automatisierung in Ihr Unternehmen mit rein, Herr Neumeier?
Neumeier: Auf alle Fälle. Viele Projekte werden nach der Verfügbarkeit von Arbeitskräften an dem Standort entschieden. Wenn es diese nicht gibt, muss ich das mit Automatisierung kompensieren. Bei längerfristigen Mandaten für Logistikdienstleister geht das, denn Intralogistik-Aufwendungen amortisieren sich in der Regel innerhalb von sieben bis zehn Jahren.
mfl: Wie bewerten Sie die Standortdebatte und die teilweise heftigen Anfeindungen gegen Neuansiedlungen?
Schröder: Die Außendarstellung ist sicherlich auch in der Logistik ein Thema. Sobald irgendwo ein Bauzaun hochgezogen wird, protestiert der Rentner dagegen. Aber auch Bürgermeister sind hier gefordert, ich kenne einige, die am liebsten einen Hafen gleich schließen und lieber „Leben am Wasser“ verkaufen würden. Das klingt in der Außendarstellung einer Stadt oft eleganter.
Neumeier: Das Thema Bürgerinitiativen ist leider ein Trendthema im negativen Sinne. Diese Initiativen professionalisieren sich immer besser und entwickeln eine regelrechte Eigendynamik. Gerade die Bedrohung, die innerhalb dieser Initiativen von Einzelpersonen ausgeht, haben inzwischen aber auch eine Qualität erreicht, die mich nachdenklich macht.
Schröder: Es gibt Proteste an Standorten, die so nahe an Autobahnen liegen, dass es dort noch nicht mal Tiere gibt, geschweige denn dort Menschen leben oder leben wollen würden. In einer Bürgerversammlung bei einem solchen Fall hat mich ein anwesender Rentner dafür beschimpft, dass ich mir einen Rasenmäher im Internet bestellt habe. Stichwort: In so einer Welt möchte er nicht leben. Was der Herr nicht realisiert hat, war, dass auch der Baumarkt vor Ort keine Rasenmäher produziert und der direkte Vertriebsweg zu mir nachhause unter Umständen der ressourcenschonendere ist. Man muss den Leuten sagen: Hört nicht auf die Agitatoren unter den Wutbürgern.
Nehm: In Bezug auf optisch ansprechende oder flächensparende Layouts beziehungsweise allgemeine „Verträglichkeit“ hat sich die Branche in der Vergangenheit allerdings auch nicht mit Ruhm bekleckert. Der Eingriff in die Umgebung, den Logistikimmobilien auslösen, hätte bereits vor zehn oder fünfzehn Jahren den einen oder anderen auf die Idee bringen können, gegenzusteuern. Jetzt ist das Thema virulent. Ich finde, die Branche muss konstruktiver werden.
Meyer: Viele Logistik-Dienstleister sehen sich nicht in der Rolle, Aufklärung zu leisten, da sie sich als verlängerte Werkbank sehen.
Neumeier: Eine sensible Auseinandersetzung mit Bürgern und Lokalpolitikern ist heutzutage unabdingbar – sowohl für Verlader, als auch für Logistiker. Noch zu oft sprechen Verlader mehrere Dienstleister an und vertrauen darauf, dass irgendjemand ihnen die Fläche an einem bestimmten Standort organisiert. Dieses Vorgehen ist selten von Erfolg gekrönt und führt zu dem Vorwurf, die Branche handele unprofessionell.
mfl: Ist die Nachhaltigkeit ein Thema, bei dem sich jetzt Logistik-Dienstleister aktiv zeigen können, ohne sich gleich wieder als Logistikhelden zu stilisieren, soweit muss man ja gar nicht gehen?
Lucas: Die stärkere Profilierung und Positionierung ist notwendiger denn je, um für Projekte nicht einfach nach Größe selektiert zu werden. Das liegt an dem Fehlen einer neutralen Instanz, die dies aufbereiten würde, aber bisher auch am Interesse der Dienstleister, sich hier klarer zu positionieren.
Schröder: Für mich ist das Thema Nachhaltigkeit ein Hygienefaktor. Vor Jahrzehnten war das ISO 9001, da kräht heute kein Hahn mehr danach, danach ISO 14000+X. Jetzt also die Nachhaltigkeit. Ich prognostiziere, dass das Thema in fünf Jahren Standard ist.
Meyer: Ich glaube, dass es Hype-Themen geben muss, denn nur diese treiben die Dienstleister an, Veränderungen durchzuführen. Innovation passiert dort, wo Auftraggeber dies einfordern – das haben wir auch beim LogiVisor-Award gemerkt.
Neumeier: Heute weiß niemand, was CO2-neutral bedeutet. Konkret. Das ist gut für die Beraterbranche. Aber dank Greta Thunberg und Co. ist ein gewaltiger gesellschaftlicher Hype entstanden. Unsere Branche hat nur noch keine Definition für das Siegel „CO2-neutral“. Für ansiedelnde Logistikunternehmen ist dieser Aspekt ein super Einstiegspunkt bei Kommunen. Sprich, wenn wir ankündigen, dass die geplante Logistikimmobilie CO2-neutral wird, wie beispielsweise Photovoltaikanlagen oder Dachbegrünung, zeigen sich Kommunen oft gesprächsbereit. Wir brauchen also das Thema.
mfl: Steckt in der Herausforderung also, wie schon so oft, eine Chance?
Schröder: Ja und nein. Man sollte dennoch nicht vergessen, dass es letztlich vielen Konsumenten egal ist, ob der Händler oder Hersteller CO2-neutral handelt. Es gibt viele Unternehmen, wie beispielsweise REWE, die seit Jahren auf den Rechnungen CO2-Daten sammeln, dies ihren Kunden gegenüber bis heute aber gar nicht ausweisen können. Daher entscheidet der Carbon Footprint eben genau nicht über den Kauf von Chipsmarke A oder B. Ich sehe hier noch nicht mal im Ansatz ein Zertifizierungssystem.
mfl: Besteht hier am Tisch Einigkeit, dass Logistik-Dienstleister mehr darauf hören sollten, was die Gesellschaft bewegt?
Meyer: Ich würde eher sagen, dass die Dienstleister in einer Identitätskrise stecken, ohne es selber gemerkt zu haben, da sie sich über ihre eigene Rolle im Logistikkontext nicht im Klaren sind. Die Zeit der „verlängerten Werkbank“ ist vorbei. Vielmehr geht es darum, dass Auftraggeber überlegen, einen Dienstleister zu wählen, der die Logistik auf ein Level heben kann, dass man selber nicht erreichen kann. Das wäre eine Chance für die Dienstleister, sich zu differenzieren und nicht einfach nur eine Halle anzumieten und eine operative Abwicklung aufzubauen. Das reicht nicht mehr.
mfl: Ein Appell zur Professionalisierung?
Meyer: Eher zur Klärung der eigenen Identität. Zum Rollenverständnis: Was ist es, was uns als Dienstleister in zehn Jahren noch im Geschäft hält? Das unterscheidet sich sehr von, zum Beispiel 4PL-Ansätzen früherer Jahre.
Neumeier: Für die Logistik ergeben sich gerade heutzutage viele Chancen. Beispiel: Urbane Logistik. Kein Dienstleister hat sich bisher drangetraut, sich drum zu kümmern, wie die Logistik in Städten mit mehr als, sagen wir, 100.000 Einwohnern, klappen kann. Das ist ein ideales Feld für die Branche. Oder nehmen wir die Automatisierung: Es gibt in Deutschland nicht mehr als zehn Logistik-Dienstleister, von denen ich behaupten würde, dass sie Automatisierung können. Das ist doch unglaublich!
mfl: Die niedrigen Margen sind sicher ein Beweggrund für die Zurückhaltung…
Schröder: Ja, der typische Mittelstand muss zunächst Geld verdienen, die machen nichts auf gut Glück. Bei Margen von zwei bis drei Prozent für klassische Transport- und Umschlagleistungen darf das nicht verwundern. Und was die Beratungsleistung angeht, die vom Dienstleister hier gefordert wird: Dazu bräuchte das Unternehmen erst einmal Personal – das es aber nicht finden kann.
mfl: Die Identität finden, die Nachhaltigkeit in den Fokus nehmen, die Automatisierungstrends beachten – was kann man dem Logistik-Dienstleister noch nahelegen?
Meyer: Das gilt gleichermaßen übrigens auch für die Auftraggeberseite. Auch diese muss sich Gedanken machen. Je weniger ich den Dienstleister teilhaben lasse und wirklich einbinde, desto weniger wird er sich in Richtung Innovation bewegen.
Neumeier: Um es positiv zu formulieren: Wer in der Nische gut arbeitet, hat beste Chancen als Logistik-Dienstleister – Mut zur Lücke zu zeigen und davon wegzugehen, „alles“ anzubieten, das muss die Devise sein.
Lucas: Es gibt Potenzial für Neueinsteiger in der Logistik ebenso wie für etablierte Unternehmen, die bereits langjährige gute Beziehungen zu ihren Kunden einbringen können. Auch diese können sich verändern. Lernen kann schnell gehen mit den richtigen Partnern an Bord. Für weitere kompetente Logistik-Dienstleisterkapazitäten gibt es in Deutschland weiterhin ausreichend Nachfrage und Bedarf.
mfl: Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch!
materialfluss war für das ROUND TABLE im Januar zu Gast bei Logivest in München. Wir danken für die organisatorische Unterstützung.