Menschen und Situationen!

Michael Schreckenberg,

Total abgefahren im Jahr 2022?!

Michael Schreckenberg lehrt an der Universität Duisburg-Essen als Professor für Physik von Transport und Verkehr. Einmal im Jahr richtet er sich an die Leser von materialfluss, früher von LT-manager, mit einem kritisch-humorvollen Expertenbeitrag über die Verkehrspolitik. Eine Tradition, die wir 2021 gern fortsetzen.

© privat

Wie man es auch dreht und wendet, die Welt scheint irgendwie nicht mehr rund zu sein. Eine Art Unwucht hat sich eingestellt. Wie bei einem Autoreifen muss man dann eigentlich nachjustieren oder aber es fängt an richtig zu „eiern“. Und Eierköpfe haben wir wahrlich schon genug! Denn wo man hinschaut, wird herumgeeiert. Man ist geneigt, das Colonia-Duett mit „Du Ei!“ aus der Mottenkiste heraus zu zitieren.

Mal vorwärts, mal rückwärts, immer mit Verzögerung

Eigentlich bei allen drängenden Fragen geht es mal vor, und dann (rasch) wieder zurück, wobei die Ausschläge immer heftiger werden anstatt geringer. Man kennt das von der Prozesssteuerung, wo immer mit einer gewissen Zeitverzögerung reagiert wird, oder besser: werden kann. Man kennt das auch von der Temperaturregelung beim Duschen oder dem Lenken eines Schiffes, wo man ständig dem Wunschergebnis hinterherhechelt.

Das oszillatorische Verhalten solcher Systeme ist zumindest mathematisch gut verstanden, hofft man am Ende doch auf schnelle Konvergenz. Sind aber die Maßnahmen zu halbherzig, so erreicht man dann schon mal das Gegenteil. Zumal sich auch die Randbedingungen teilweise radikal ändern.

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Man denke nur an den Umschwung der Bevölkerungsmeinung zu Kontrollen. War man seinerzeit froh, sich ohne oder mit ungültigem Ticket wo und an was auch immer vorbei zu schmuggeln, so ist man mittlerweile über fehlende Genauigkeit und Konsequenz geradezu enorm empört. Ob das auch im Jahr 2022 anhält oder nach (ist ja eigentlich vor!) der Pandemie wieder das „Laissez-faire“ Einzug hält, bleibt tatsächlich abzuwarten. Aber bleiben wird auf jeden Fall etwas, und sei es das „Herumeiern“!

Den Corona-Virus stört das alles nicht sonderlich, sondern es freut ihn eher. Er ist keinen Stimmungsschwankungen unterworfen und ähnelt mehr einem fest vorprogrammierten Roboter. Und er findet im politischen Entscheidungsvakuum ideale Ausbreitungsmöglichkeiten. Allerdings lernt man in der Physik, dass selbst das Vakuum nicht vollkommen leer ist, also doch verschieden vom absoluten „Nichts“. Endlich ein Hoffnungsschimmer?

Novelle: Das heimliche Wort des Jahres

Eigentlich sollte zum Wort des Jahres 2021 die „Novelle“ gekürt werden. Allerdings denkt der Literaturfreund eher an eine kürzere Erzählung über ein Ereignis (von italienisch novella, „kleine Neuigkeit“) mit einem bestimmten Ziel. Wer kennt nicht „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Doch leider hat das arme Wort noch eine zweite, folgenschwere Bedeutung, nämlich ist damit ein Gesetz zur Ergänzung oder Abänderung eines geltenden Gesetzes gemeint. Darin sind dann häufig nicht „kleine Neuigkeiten“ versteckt, sondern teilweise was richtig Großes.

Denn mit Spannung werden ja immer wieder die Novellen zum „Infektionsschutzgesetz“ erwartet, kurz „Corona-Novelle“ genannt. Da stutzt man dann einen Moment und denkt daran, dass damit eigentlich die nächste „Corona-Welle“ (gerade die vierte) gebrochen werden soll. Im Prinzip ist die Wortwahl gar nicht so dumm, wenn man die Schreibung nur ein wenig ändert: Corona-No-Welle. Na ja, wenn’s hilft!

Das ungehemmte Leben auf den Straßen wird teuer

Auch eine weitere Novelle erblickte (endlich!) das Licht der (Bundesrats-)Welt: die StVO-Novelle. Darin insbesondere enthalten ist die Novelle des Bußgeldkataloges, der das „ungehemmte“ Leben auf der Straße richtig teuer macht. Auch für Radfahrer gilt das, Kostprobe gefällig: keine Klingel (15 €), Nebeneinander-Fahren (20 €), Telefonieren (55 €) und rote Ampel eine Sekunde missachtet (100 € + ein Punkt). Aber wer will das denn alles kontrollieren? Das klappt ja nicht mal bei 2G, 2G+, 3G, 3G+, 4G, 5G (was war da nochmal mit den beiden letzten?). Als Physikstudent weiß man zumindest, was ein „g“ ist, nämlich die Erdbeschleunigung vom 9,81 m/s2, und die kann man durch ein angehängtes „+“ (g+) nicht einfach verstärken, auch nicht 2022!

Derweil die Luft-Schadstoffdiskussionen heftig weiter über das Land hinwegfegen. Hatte doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst kürzlich im September die alten Grenzwerte von 2005 für Feinstäube verschiedener Größe und Stickstoffdioxid deutlich verschärft, heißt heruntergesetzt. Allerdings muss man mal abwarten, was davon in der EU tatsächlich ankommt, denn auch die 2005er-Grenzwerte wurden einigermaßen „weichgespült“ übernommen. Das Thema ist aber auf der Agenda.

Genauso wie die CO2-Debatte, wenn es denn wirklich eine wäre. Recht häufig liest man auch in ernst gemeinten Texten „Co2“. Aber Co steht für Cobalt (nicht Corona!), ein „ferromagnetisches Übergangsmetall“. Und dieses Element spielt seine wichtigste Rolle bei den Lithium-Ionen-Batterien, nämlich als Kathodenmaterial. Da treibt man offensichtlich ein undurchsichtiges Spiel. Man fühlt sich irgendwie an die Welt der „Antinomien“ erinnert, wo man sich für so schöne Sätze interessiert wie: „Ich sage jetzt nicht die Wahrheit“. Aber wen interessiert die denn überhaupt?

Tempo 30 innerorts und 120 auf der Autobahn?

Aber wenn es denn wirklich um CO2 und NOx geht (seltsamerweise taucht „Nox“ eigentlich nicht auf) wird zur Reduktion immer häufiger der Ruf nach Tempolimits laut. Das wird uns in 2022 auf jeden Fall weiter begleiten, egal wie das Verkehrsministerium besetzt sein wird (oder ist). Und wenn es die Regierung nicht „wuppt“, dann haben wir ja immer noch die Deutsche Umwelthilfe (DUH), verkörpert durch Jürgen Resch. Sein Weg vor das Bundesverfassungsgericht ist recht kurz, fast schon Standard. So wird dann Tempo 30 in geschlossenen Ortschaften, 80 auf Landstraßen und 120 auf Autobahnen zur Disposition stehen. Das Thema ist klebrig und zäh wie falsch gemischte Teigware, kein Mehl in Sicht.

Doch da gibt es auch die Stellschraube der Benzin- und Dieselpreise. Die kennen momentan nur eine Richtung, kein Limit in Sicht. Da wird die Fahrerei richtig teuer, auch ohne Autobahn- oder City-Maut. Und die Elektros sind auch nicht zum Schnäppchenpreis zu haben. Da kommen dann schon Zweifel an den mobilen Konzepten auf.

Denn wie wollen wir in Zukunft, eben irgendwann nach Corona, unterwegs sein? Abgefahren scheint jedenfalls der Zug im öffentlichen Nahverkehr. Die Fahrgäste bleiben einfach weg. Das hat den Beigeschmack von „Nachhaltigkeit“. Als Alternative gibt es ja Homeoffice oder ab auf’s Fahrrad (oder Pedelec). Und zu Fuß lässt sich ja auch vieles erledigen. Wird das Auto am Ende gar zur Luxuskutsche?

Im Ausblenden war der Mensch schon immer spitze

Nein, abgefahren wie die ganze Situation ist auch hier das rein menschliche Entscheidungsverhalten. Nirgendwo verschätzen sich die Nutzer so sehr wie bei den laufenden Kosten für ihr Auto. Da drückt man gerne mal ein Auge zu. Im Ausblenden war der Mensch schon immer spitze. Denn in einem Paralleluniversum lebt es sich ganz ungeniert. Und dafür muss man kein abgefahrener Verschwörungstheoretiker sein!

Über den Autor: Prof. Dr. Michael Schreckenberg, geboren 1956, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für die Physik von Transport und Verkehr erhielt. Für LT-manager fasste Schreckenberg von 2012 bis 2019 das zu Ende gehende Verkehrsjahr zusammen. Eine Tradition, die der Professor nun in materialfluss fortsetzt.

Der Beitrag erschien in materialfluss WELT DER INTRALOGISTIK 2021.

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